Wie bereist man ein Land, das zu den längsten der Erde zählt, das sich von Nord nach Süd über 4000 Kilometer zwischen Anden und Pazifik erstreckt und dabei mehrere Klimazonen durchläuft? Zehn Hallenserinnen und Hallenser wollen dies am zweiten Abend unserer „Weltreise durch Wohnzimmer“ herausfinden. Ein paar bekannte Gesichter vom ersten Weltreiseabend sind unter den Gästen, die meisten nehmen aber zum ersten Mal an einer Wohnzimmerreise teil. Ein Gast kam sogar ganz spontan hinzu, nachdem ein Reisender kurzfristig verhindert war. Sie alle sind neugierig auf Chile.

Karl, der Gastgeber unserer Chile-Wohnzimmerreise, und seine Freundin Bonny heißen die Reisenden in ihrer Wohnküche mit Pisco Sour willkommen, ein Cocktail aus Limettensaft, Zucker, Ei und Pisco (einem chilenischen oder peruanischen Branntwein – die Herkunft bleibt ein Politikum in beiden Ländern). Platz ist in der kleinsten Hütte: Im chilenischen Wohnzimmer wird es kuschlig, doch es passt sogar ein weiterer Gast hinein, denn Karl hat sich musikalische Verstärkung geholt, um seinen Gästen einen ganz besonderen Eindruck seines Heimatlandes zu vermitteln: Tomy, ebenfalls Chilene und seit zwei Jahren in Deutschland, kam mit Gitarre, Charango und vielen Liedern im Gepäck, um von den schönen und auch zwiespältigen Themen des Landes zu singen.

Das Charango ist ein kleines Saiteninstrument aus dem Altiplano ganz im Norden von Chile. Hier beginnt die musikalische Reise. Ursprünglich wurde der Körper des Andeninstruments aus einem Gürteltierpanzer gefertigt. Tomys Instrument ist aber schon tierfreundlich aus Holz gebaut. Sein Charango bringt uns ins Gebirge und in die trockenste Wüste der Welt. Von Nordchile aus geht es musikalisch weiter ins Zentrum des Landes nach Valparaíso, die größte Hafenstadt Chiles und eins der wichtigsten kulturellen Zentren. Der Dichter Pablo Neruda hat hier gelebt und geschrieben, die Einflüsse aus aller Welt kamen über den Hafen ins Land, doch auch die Kontraste zwischen Arm und Reich werden in dieser Stadt sichtbar, betont Karl. Mit einem Liebeslied an Valparaíso als „Joya del Pacífico“ (Juwel des Pazifiks) ziehen wir weiter gen Süden und zum Archipel Chiloé. Die Inselgruppe gehört wohl zu den schönsten Flecken unseres Planeten, voller Mythen und, so Karl, mit wunderbar gastfreundlichen Menschen. Auf Chiloé gibt es jedoch auch schwere Konflikte zwischen den lokalen Fischern und den großen Fischfangunternehmen, die den Menschen vor Ort die Lebensgrundlage nehmen.

Tomy greift zur Gitarre und beginnt mit Liedern von Violeta Parra, die wohl bekannteste Folkmusikerin des Landes. Sie verarbeitete die Konflikte des Landes in ihrer Poesie. Mit ihrer Musik geht es weiter in das Land der Mapuche, der größten indigene Gruppe Chiles. Karl berichtet von den Konflikten der indigenen Bevölkerung mit dem Staat, vom Selbstverständnis der Mapuche als „Volk der Erde“ und ihrer Sprache Mapudungun, der „Sprache der Erde“. Sie sind das einzige indigene Volk Lateinamerikas, das seit 500 Jahren Widerstand leistet, erst gegen die Spanier, dann gegen den chilenischen Staat, inzwischen vermehrt gegen große Industrien.

Die Region Araucanía ist das angestammte Gebiet der Mapuche. Hier wachsen die Araukarien, nach denen die Region benannt ist und die die wichtigste Lebensgrundlage für die Mapuche sind. Mit „Arauco tiene una pena“ von Violeta Para beenden Tomy und Karl die musikalische Reise von Norden nach Süden.

Nach so vielen zurückgelegten Kilometern und spannenden Geschichten brauchen alle eine Stärkung. Bevor das Essen aufgetragen wird, stimmt Tomy noch eine Cumbia an. Zu dem eigentlich aus Kolumbien stammenden Rhythmus wird auch in Chile gern getanzt. Auf dem Wohnzimmertisch türmen sich nun duftende Sopaipillas. Die frittierten Hefeteigstücke konnten die Gäste herzhaft mit Pebre (einem Dip aus Zwiebeln, Koriander, Knoblauch und Paprika), Merkén (einer chilenischen Gewürzmischung aus Chili, Koriander und Salz) oder süß mit Marmelade oder Zucker probieren.
Nota bene!

Für die chilenischen Wohnzimmerreise gab es neben Musiker Tomy noch weitere helfende Hände. Carmen von nebenan (und ursprünglich aus El Salvador) half Karl und Bonny mit Gläsern und Tellern aus, damit die 10 Reisenden das leckere Essen genießen konnten. Noé, Freund aus Mexiko, kam auch vorbei und unterstützte als gelernter Koch beim Zubereiten der – natürlich trotzdem chilenischen – Speisen. Muchas gracias an das gesamte lateinamerikanische Team!

Nach dem Essen kommen Gäste und Gastgeber ins Gespräch: über Karls Familie, sein Leben in Deutschland, Politik, Literatur und deutsche Einflüsse in Chile. Denn im 19. Jahrhundert wanderten viele Deutsch nach Chile aus. Auch Karl (man sieht es am Namen) hat zum Teil deutsche Vorfahren. Ein eindrücklicher, vielstimmiger Abend geht zu Ende. Bereichert mit viel neuem Wissen über ein fremdes Land, Geschichten, Ohrwürmern und Literaturempfehlungen nehmen die Gäste Abschied. Karl freut sich, dass so viele unterschiedliche Themen zur Sprache kommen konnten, denn natürlich ist es einfach, über die schönen Dinge in Chile zu berichten, aber ihm war es wichtig, auch die Widersprüche und Konflikte zu zeigen.

(Bericht von Lisa Osterburg, Franckesche Stiftungen, Halle an der Saale)