Wenn Elena an russische Gastfreundschaft denkt, dann immer an kleine Küchen, in denen sich viele Menschen um eine reichgedeckte Tafel setzen, sich austauschen und Geschichten erzählen. Gastfreundschaft in Russland – besonders in den entlegenen Gebieten Sibiriens, wo man tagelang keiner Menschenseele begegnet und Dörfer wochenlang von der Außenwelt isoliert sind, bis endlich mal wieder ein Fremder vorbei kommt, wo es im Winter extreme Minustemperaturen gibt, nur wenig Licht und wo man sich umso lieber in warmen Küchen versammelt – Gastfreundschaft in Russland muss etwas Besonderes sein. Auf der vierten Reisestation unserer „Weltreise durch Wohnzimmer“ in Halle an der Saale konnten wir diese besondere Gastfreundschaft kennenlernen. Elena und Oliver luden neun Reisende in ihre Küche ein, versammelten sie um eine reichgedeckte Tafel und berichteten von einem extremen Land, das so kalt und unwirtlich scheint und – vielleicht gerade deshalb – so viele warmherziger Begegnungen ermöglicht. Unsere Reise ging bis an den östlichsten Zipfel des eurasischen Kontinents: nach Kamtschatka. Hier ist Elena geboren und aufgewachsen, hier lernte sie den Hallenser Oliver kennen und hier sind beide immer noch zeitweise mit ihren beiden Kindern zu Hause.
Gleich zu Beginn erfuhren die Reisenden eine der wichtigsten Grundlagen der russischen Willkommenskultur: Der Wodka wurde hervorgeholt und jedem ein Gläschen eingeschenkt, kredenzt auf Preiselbeeren aus Kamtschatka. „За знакомство!“ [sa znakómstwa], ruft Oliver und prostet damit allen auf das Kennenlernen zu. Im Laufe des Abends werden wir noch viele solche Trinksprüche lernen. Der berühmteste ist jedoch nicht darunter. „Na sdorowje sagen nur die Deutschen“, erklärt Elena, „und sie behaupten so hartnäckig, dass Na sdorowje ein russischer Trinkspruch ist, dass man ihn in Russland inzwischen verwendet, wenn man mit Deutschen anstößt, da jeder weiß, dass die Deutschen es gerne sagen.“ Statt des deutschen Na sdorowje sollte man es lieber mit Juri Gagarin halten, der einen beliebten Trinkspruch in Russland prägte. Seine letzten Worte, bevor er ins All flog, eignen sich hervorragend, um einander mit Wodka zuzuprosten: „поехали“ [Pojechali] – Los geht’s! Und noch etwas lernen wir zum Wodka: Er wird immer mit sauren oder scharfen Häppchen gereicht, den заку́ска [sakusska]. Auf dem Tisch stapelt sich deshalb Brot, saure Gurken, eingelegter Speck, Hering, Knoblauch, Krautsalat und eine würzige Tunke aus Paprika, Tomaten und Auberginen. Bevor man den Wodka trinkt, riecht man am besten an dem Brot, hält die Luft an, trinkt, atmet dann erst wieder aus und beißt vom Brot ab. Bei den Sakusska sollte es an diesem Abend aber nicht bleiben. So eine russische Tafel muss sich unter dem Essen biegen. Unsere Gastgeber tischen deshalb auch noch Pelmeni und Salate aus Roter Bete, Walnüssen und Knoblauch oder aus Möhren und Frischkäse auf.
Natürlich dreht sich bei diesem Wohnzimmerabend nicht alles ums Kulinarische. Elena und Oliver haben zusammen viele Reisen unternommen, immer mit dem Fahrrad, quer durch Russland, im Winter über den Baikalsee oder auf den Spuren von Georg Wilhelm Steller einmal um den Polarkreis herum. Die Bilder, die sie zeigen, sind atemberaubend, die Geschichten anrührend. Wie sie mit dem Fahrrad über das Eis des Baikalsees fahren, wie sie sich im Sommer durch den aufgeweichten Permafrostboden kämpfen, wie sie überall, wirklich überall, sobald sie auf Menschen treffen, eingeladen, bekocht und zum Wodkatrinken verpflichtet werden, wie ihnen das Gerücht, dass da zwei Verrückte auf dem Fahrrad unterwegs sind, vorauseilt und sie in den kleinen Dörfern schon sehnsüchtig erwartet werden. Denn endlich kommt mal jemand vorbei, der neue Geschichten mitbringt. Und wie sie schließlich ihre Reiseleidenschaft zum Beruf machen und selbst den Touristen ihre schöne Heimat Kamtschatka zeigen, die vulkan- und braunbärenreichste Gegend der Welt. Die neun Reisenden verlassen schließlich das gemütliche „russische Wohnzimmer“ angefüllt mit wunderbaren Geschichten über das Reisen und das Leben in einem unvorstellbar weiten Land, angefüllt mit dem Wunsch selbst einmal die Berge und Vulkane Kamtschatkas zu besteigen, angefüllt mit dem leckeren Essen und, nun ja, auch der ein oder andere Wodka ist geflossen.
Спасибо [spasiba] Elena und Oliver!

Nota bene:
Der Name Georg Wilhelm Steller (1709–1746) fiel immer wieder an diesem Abend. Steller war Francke-Schüler und begleitete als Naturforscher Vitus Bering bei der Zweiten Kamtschatkaexpedition. Er bereiste unter anderem Alaska und Sibirien und beschrieb erstmals die nach ihm benannte Stellersche Seekuh. Elena und Oliver lernten die humorvollen Tagebücher Stellers kennen und ließen sich davon zu einer ihrer abenteuerlichen Reisen inspirieren: einmal mit dem Fahrrad rund um den Polarkreis auf den Spuren des berühmten Naturforschers. „Auf der Strecke hat sich seit Steller nicht wirklich viel verändert“, bemerkt Oliver dazu augenzwinkernd.

(Bericht von Lisa Osterburg, Franckesche Stiftungen, Halle an der Saale)