Syrische Herzlichkeit
Syrien duftet nach starkem Kaffee und schmeckt nach Kardamom – so zumindest ist der erste Eindruck der kleinen Reisegruppe, die sich in der kleinen Wohnung unseres Gastgebers Esmail versammelt. Denn kaum haben alle am Boden auf den Kissen und Decken Platz genommen, geht Esmail mit einer wunderschön verzierten Kaffeekanne herum und schenkt starken, bitteren, mit Kardamom gewürzten Kaffee ein. Die Kaffeetassen rotieren, denn es ist üblich, sich die Tasse mit anderen Gästen zu teilen. Wer gerne nachgeschenkt bekommen möchte, hält die Tasse still, wer genug hat, wackelt ein bisschen mit ihr herum. Selbst das Kaffeetrinken ist somit ein Prozess in Gemeinschaft – wie sehr die Gemeinschaft in Syrien im Mittelpunkt steht, sollte die Reisegruppe an diesem Abend noch in vielen Details erfahren.
Esmail stammt aus einer Kleinstadt in der Nähe von Damaskus, ganz nah an der libanesischen Grenze. Bereits 2011 kam er für seine Promotion nach Deutschland. Durch den Krieg in Syrien ist eine Rückkehr im Moment ausgeschlossen. Ginge er jetzt nach Syrien, würde man ihn sofort ins Militär einziehen. Die Bilder, die er uns an diesem Abend auf seinem Computer von Syrien zeigt, sind alle vor dem Krieg aufgenommen. Aktuellere Fotos möchte er nicht zeigen und vielleicht selbst auch gar nicht sehen. Stattdessen nimmt Esmail die Reisenden mit in eine uralte Kulturregion, die seit Jahrtausenden am Schnittpunt zwischen Europa, Asien und Afrika von den unterschiedlichsten Kulturen geprägt ist. Ein typisch syrisches Viertel lässt sich deshalb nicht mit einem Wort beschreiben. Sunniten, Alawiten, Juden, Christen, Kurden – sie alle leben Tür an Tür, ihre Gotteshäuser stehen in direkter Nachbarschaft, gemeinsam feiern sie das muslimische Zuckerfest ebenso wie Weihnachten. „Der Krieg in Syrien ist kein Bürgerkrieg“, sagt Esmail. Die Bürger bekämpfen sich nicht. Es ist ein Weltkrieg, den die unterschiedlichsten Mächte auf einem kleinen Gebiet austragen.
Doch der Krieg soll an diesem Abend nicht im Vordergrund stehen. Nach acht Jahren in Deutschland hat Esmail seinen deutschen Gästen auch viel über sie selbst zu erzählen. Denn nachdem so viele Menschen aus seinem Kulturraum nach Deutschland kamen, sieht er, wie Deutsche und Syrer in vielen Alltagsituationen auf Missverständnisse stoßen, ohne es selbst zu merken. Wer seine eigene Kultur verlässt und in einer neuen ankommen möchte, muss mehr verstehen als nur die neue Sprache. Gestik, Mimik, alles, was zwischen den Zeilen gesagt wird – für ihn als Syrer waren diese Details noch viel schwieriger zu erlernen als die deutsche Sprache an sich. Anhand vieler Beispiele entführt Esmail seine Gäste deshalb in eine Welt voller kommunikativer Herausforderungen. So waren seine Gesprächspartner anfangs ihm gegenüber äußerst skeptisch, da er ihnen beim Reden nicht in die Augen schaute (was in Syrien aber ein Zeichen des Respekts ist). In Syrien ist es auch normal, jemanden mit großem Hallo und viel Zuneigung zu begrüßen, obwohl man sich gerade erst tags zuvor kennen gelernt hat. Wenn jemand etwas erzählt, unterbrechen die Zuhörer mit vielen Zwischenrufen und eigenen Erzählungen, weil sie so zeigen, dass sie dem Erzählten gespannt folgen. Und anstatt eine Einladung einfach direkt auszuschlagen, wird mit vielen Worten ausgeführt, dass man versuchen wird, die Einladung anzunehmen. Für einen Deutschen bedeutet das „ja“, ein Syrer versteht darin die beabsichtigte Absage. In Syrien steht in der Kommunikation immer das Gefühl im Vordergrund, mit Worten, Berührungen, Lautstärke und Überschwang versichert man sich seiner gegenseitigen Zuneigung. Die knappe, direkte Kommunikation in Deutschland steht dazu in einem starken Gegensatz, merken die Wohnzimmerreisenden.
Nach so vielen spannenden Einblicken in die syrische Kultur haben sich alle eine Stärkung verdient. Auf dem Boden breitet Esmail deshalb allerhand arabische Leckereien aus. Syrisches Fladenbrot, das die Gäste in Olivenöl und Zatar (eine Gewürzmischung aus wildem Thymian und Kumin) tunken, sauer eingelegte Aubergine, gefüllte Weinblätter, Humus, Kichererbsen und Saubohnen, Labaneh (ein eingedickter Joghurt), Halawa (eine süße Paste aus Pistazien und Zucker) und natürlich Datteln, Oliven und Sonnenblumenkerne. Gegessen wird mit den Händen. Eine der Reisenden zückt eine Packung Papiertaschentücher für alle, falls beim ungewohnten Essen doch mal etwas Öl danebengeht.
Nach einem Abend in Esmails Wohnzimmer nehmen die Reisenden viele neue Erkenntnisse mit. Einige selbsterlebte Missverständnisse werden ihnen jetzt erst deutlich, viel Neugier auf die arabische Kultur wurde geweckt. Aber auch etwas Wehmut nehmen die Gäste mit, denn das Syrien, das Esmail beschreibt, wird niemand so schnell selbst kennen lernen können. Esmail sagt, dass er viel gewonnen, aber auch viel verloren hat. Ein syrisches Zuhause lässt sich nicht so einfach in Deutschland wieder aufbauen. In Syrien würde man kaum auf die Idee kommen, überhaupt einmal umzuziehen. Man bleibt in der Nähe seiner Familie, kennt jeden Stein und jedes Haus in der Nachbarschaft. In der Freizeit rollt man einfach einen Teppich vor dem Haus aus, nimmt eine Kanne Tee mit und bleibt dort kaum eine Minute allein, weil sich sofort Nachbarn und Freunde hinzugesellen. Doch in Deutschland hat Esmail auch viel gewonnen. Er genießt mehr Freiheit. Außerdem hat ihn die Erfahrung, sich auf eine neue Kultur einzulassen, prinzipiell offener werden lassen. Er sagt, er begegnet Menschen jetzt nur noch als Menschen. Herkunft, Hautfarbe, Religion, Sexualität – nichts davon spielt mehr eine Rolle. Auch diese herzliche Offenheit ist bei unserem letzten Wohnzimmerabend für alle deutlich zu spüren gewesen.
شكرا (Shukraan) Esmail!

(Bericht von Lisa Osterburg, Franckesche Stiftungen, Halle an der Saale und Foto von Anna Kolata)